Mitte August führte die diesjährige DAV-Hochtour eine stolze Fußballmannschaft von 11 Personen plus Auswechselspieler (Volker, Michael, Andi, Sarah, Doro, Monika, Frauke, Marcel, Werner, Elsa, Knut und Leandra) in die Zentralalpen. Auf kleineren und größeren Touren, mit dem Piz Bernina (4059 m) als höchsten Gipfel, lernten wir viel über das korrekte Verhalten auf den leider mehr und mehr verschwindenden Gletschern, den Umgang mit Sicherungsmaterialien, Steigeisen und Pickel sowie Ausdauer, Trittsicherheit und die eigenen Grenzen. Wem das noch nicht reichte, bot die Verteilung der Silvretta-Gebirgsgruppe und der Bernina-Alpen über Österreich, Schweiz und Italien genug Möglichkeiten, seinen Wortschatz oder seinen kulinarischen Horizont zu erweitern.
Am Anreisetag trudelte unsere aus Anfängern bis zu langjährig Erfahrenen bunt gemischte Truppe nach und nach am Madlenerhaus (Bielerhöhe) in der Silvretta (1.986 m) ein. Geplant war an diesem Tag – bis auf eine Verköstigung mit österreichischen Spezialitäten nichts weiter. So konnten wir uns die Zeit mit den letzten Packoptimierungen, Cappuccinotrinken, Beinevertreten um den türkis glitzernden Silvretta-Stausee und dem gegenseitigen Kennenlernen vertreiben.
Den gut dreistündigen Aufstieg zur Saarbrückerhütte (2.538 m) konnten wir in strahlendem Sonnenschein und nach üppigem Frühstücksbuffet inklusive Geburtstagskuchen für unsere Elsa zurücklegen. Plätschernde Bächlein und gebietstypische Blumen in den verschiedensten Farben zogen unsere noch ein wenig im Alltag verhafteten Gedanken auf sich. Als Eingehtour bestiegen wir an diesem Tag unseren ersten Gipfel, den Kleinlitzner auf 2.783 m Höhe, den wir über einen Kletterstieg erreichten. Der korrekte Umgang mit Klettergurt, Bandschlinge und Karabiner sowie die eingeschränkte Bewegungsfreiheit durch die Sicherung am an den Fels angebrachten Seil stellte für manche von uns die erste Herausforderung dar. Auf dem Gipfel gab es dann als Belohnung eine tolle Aussicht auf den gegenüber liegenden Großlitzner und ein zweites Geburtstagintermezzo mit Gesang und Kuchen.
Am nächsten Tag wurde es dann spannend: über die Seelücke (2.770 m) passierten wir die Grenze von Österreich in die Schweiz (und zwar ganz ohne Corona-Kontrollen oder nötige Plaketten!), wo wir dann auf unseren ersten Gletscher trafen. Leider machte uns hier eine Folge des Klimawandels einen Strich durch die Rechnung: der Gletscher war zu weit zurückgegangen. Wo man laut Übungsleiter Volker 1996 noch mit Steigeisen auf Eis und Schnee fast bis zum Gipfel Kleines Seehorn (3.032 m) spazieren konnte, fanden sich jetzt unersichtliche Stellen blanken Felses – unmöglich vorherzusehen, wie und ob der Weg überhaupt begehbar sein würde. Die weniger mächtigen Gletscherreste dienten uns jedoch noch gut genug, um, zunächst skeptisch und zaghaft, dann immer mutiger, erste Schritte mit unseren Steigeisen auf dem blanken Eis zu wagen. Wir lernten, dem ungewohnten Material an unseren Füßen zu vertrauen, das Setzen von Eisschrauben (zur Sicherung an steileren Eiswänden) sowie etwas später im Schneefeld das ebenfalls der Sicherung dienende anbringen von T-Ankern und Regeln für das Gehen in Serpentinen mit Pickel. Dann wurden wir in die Kindheit zurückkatapultiert: auf Hosenboden, Bauch oder Rücken schmissen wir uns Kopf voraus, rückwärts und seitwärts in den sulzigen Schnee, um mit genügend Tempo das anschließende Stoppen mit Pickel im Falle eines Sturzes an abschüssigeren Hängen zu trainieren. Diese verloren dadurch deutlich an angsteinflößender Wirkung und so machten wir uns bester Laune und durchnässt auf den Rückweg zur Saarbrücker Hütte. Dort angekommen hatten wir noch Zeit Spaltenbergung und Knotentechniken für den Ernstfall durchzuspielen, was uns allen willkommenes theoretisches Wissen lieferte und sich als komplizierter entpuppte als gedacht.
Um die Silvretta Gebirgsgruppe – und damit auch die Saarbrücker Hütte inklusive einwandfreier mehrgängiger Verpflegung und köstlichem Mirabellenschnaps – hinter uns zu lassen, stand uns noch der Abstieg zum Madlenerhaus bevor. Offensichtlich hatten uns die Eingehtouren schon überzeugt: aus mehreren Möglichkeiten, von denen die kürzeste drei Stunden gedauert hätte, wählten wir zwei aus, bei denen unsere beiden Untergruppen jeweils ca. 10 Stunden unterwegs waren. Eine Variante mit erneuter Gletscherbegehung und der Sonntagsspitze (2.882 m), die andere mehrmals steil bergauf und -ab und, für einen kleineren Teil der Gruppe, mit dem Hochmaderer (2.823 m). Hier bekamen wir Schafe, Murmeltiere und vielleicht einen Adler zu Gesicht.
Am folgenden Tag standen auf dem Plan: Rucksäcke von unnötigem Ballast entfernen, Essensvorräte auffüllen, Geld abheben und die dreistündige Fahrt (juhuu, Regenerationszeit!) zum Hotel Morteratsch im Engadin in der Schweiz, von wo aus wir zur Bovalhütte (2.495 m) aufstiegen. Der Weg dorthin machte trotz Tagestouristen einiges her: die zum Gehen angenehm leichte Steigung wurde begleitet von aus dem Grün sprießenden Blumen, Nadelbäumen, kleineren plätschernden Wasserfällen und dem grandiosen Anblick des immer näher rückenden Morteratsch-Gletschers mit seinen noch seltsam fern und unerreichbar wirkenden Gipfeln Piz Morteratsch, Piz Bernina (inklusive des sich elegant zur Spitze windenden Biancogrates), Piz Palü und des Bellavista-Gipfelgrates, die Ziele unserer nächsten Tage. Zumindest in mir machte sich eine positive, kribbelige Aufgeregtheit breit.
Für die Besteigung des Piz Morteratsch (3.751 m) nahmen wir unser Frühstück schon um vier Uhr ein. Wahrscheinlich war es diese Umstellung unseres Biorhythmus, das Birchermüsli und die gehörige Portion Adrenalin, die uns an diesem Tag noch erwarten sollte, die unsere Bäuche über den Tag ganz schön in Aufruhr versetzte. In der Dunkelheit machten wir uns an den Aufstieg; die in der Ferne leuchtenden Stirnlampen von anderen Bergsteigern, die sich langsam im Zick-Zack den Berg hinauf bewegten, ließen die ganze Szenerie wie in einem Traum wirken. Nach dem grapefruitfarbenen Sonnenaufgang führte unser Weg über eine schwindelerregend lange Leiter, die ersten Kletterpassagen mit deutlich Luft unter den Füßen über einen Grat, zu unserer ersten, steileren Eiswand. Aufgeteilt in zwei Seilschaften ging es die Wand nach oben, gesichert durch Eisschrauben. Nach dem folgenden Abschnitt durch Schnee, der sich durch die deutlich dünnere Luft und die bereits fortgeschrittene Zeit in die Länge zog, erreichten wir endlich den Gipfel. Strahlender Sonnenschein – das Engadin ist bekannt für sein gutes Wetter – erlaubte uns eine grandiose Aussicht auf die umliegenden Gipfel. Der Kräfte und Nerven zehrende Aufstieg hatte sich gelohnt und so konnten wir uns nach wohlverdienter Gipfelschokolade auf den Rückweg machen. An den kritischen Stellen – der Eiswand und den Kletterpassagen – ließen oder seilten wir uns ab. Mit unserer Gruppengröße nahm dies jedoch deutlich Zeit in Anspruch und so waren wir alle heilfroh, als wir es gerade noch pünktlich nach ca. 14 Stunden zurück in die Bovalhütte zum Abendessen geschafft hatten.
Die durch unsere müden Geister getroffene, zähe Entscheidung, den folgenden Tag einen Ruhetag einzulegen, stellte sich als richtig heraus; noch in der Nacht begann es zu gewittern und so hatten wir Zeit, unsere Akkus wieder voll zu laden.
Um zur 3.597 m hoch gelegenen, italienischen Marco e Rosa Hütte zu gelangen, machten wir uns in der Dämmerung auf den Weg über das ewige Eis der Gletscherzunge des Morteratsch-Gletschers, ein steiles Geröllfeld und Schneepassagen zum Fortezzagrat (3.372 m), wo sich die Kletterer unter uns über eine Herausforderung freuen konnten. Oben angekommen, hieß es nach Bewunderung des Pers-Gletschers abermals Steigeisen anziehen. Wir überquerten das abschüssige Firnfeld des Morteratsch-Gletschers. Auch ohne Gipfel hatten wir auf dem Weg unsere Höhepunkte, gute Ausdauer war gefragt. Was auf der neu renovierten Marco e Rosa Hütte zu bemängeln war (italienische Toiletten, also Löcher im Boden mit entsprechender Geruchsbildung), wurde durch die Lage, ein Menü bestehend aus Primi und Seconi Piatti sowie Dolce und italienischen Kaffee wieder aufgewogen.
Am darauffolgenden Tag war die Besteigung des Piz Bernina (4.059 m), der höchste Berg für die diesjährige Tour, geplant. Um 11 Uhr ging es, nachdem Nebel und eisiger Wind der Sonne platz gemacht hatten, einen Schneehang hinauf zur nächsten Kletterei. Unter anderem aufgrund von Gegenverkehr entschied sich die hintere Seilschaft, auf den Gipfel zu verzichten und stattdessen den steilen Hang für weitere Übungen zu nutzen. Für die andere Seilschaft ging es weiter über einen ausgesetzten Grat mit Schnee. Die zwischendurch aufragenden felsigen Partien des Grates machten nun auch das etwas gewöhnungsbedürftige Klettern mit Steigeisen notwendig. Letztendlich erreichten wir den höchsten Punkt und konnten so auch diesen Tag mit einem Hochgefühl, Rotwein und italienischem Kräuterlikör ausklingen lassen.
Für den Abstieg zur Bovalhütte nahmen wir diesmal den Weg über den Bellavista-Gipfelgrat. Es war noch früh am Morgen, als wir unsere Spuren an einem erneut steilen, noch makellos weißen Schneehang hinterließen. Auch hier wurden unsere Nerven gefordert, als wir mit dem Pickel an der Wand darauf warteten, dass endlich eine der zunächst scheiternden Bemühungen eine Eisschraube zur Sicherung zu setzen, Erfolg haben würde. Oben angekommen ging es über die letzten beiden Gipfel (3.799 m, 3.888 m) des vergletscherten Höhenzuges an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien in Richtung Piz Palü. Die unter uns liegende Wolkendecke und der Schnee um uns herum vermittelten ein letztes Mal das Gefühl, im Himmel zu sein, fernab von allen alltäglichen Problemen. Über die Fuorcla Bellavista (3.688 m) machten wir uns an den Abstieg und entschieden uns gegen eine letzte Herausforderung mit dem Piz Palü – die letzten Tage hatten gezeigt, dass einige Gipfelbesteigungen durch das Abtauen der Gletscher deutlich anspruchsvoller und damit länger geworden waren – und so freuten wir uns, nach einem dennoch 12 Stunden langen Tag auf einen letzten gemeinsamen Abend auf der Bovalhütte.
Voller Wehmut konnten wir am Tag unserer Abreise noch einmal einen Nebelsee über dem Morteratsch-Gletscher und das Spiel aus Licht und Wolken zwischen den einschüchternden und doch vertraut gewordenen Bergen bewundern. Dann ging es, nachdem wir noch die Präzision, mit der ein Helikopter Essen und Bierkästen an Hütten abliefert, bestaunen konnten, zurück in das Tal. Bei Cappuccino und hausgemachter Engadiner-Nusstorte (ein Gedicht aus karamellisierten Walnüssen und butterigem Teig) ließen wir die Tage mit einer Feedback-Runde Revue passieren und verabschiedeten uns voneinander.
Insgesamt hatten wir 11 wundervolle, anspruchsvolle und abwechslungsreiche Tage mit fast durchgängig gutem Wetter. Trotz der großen Gruppe (die Entscheidungen nicht gerade erleichterte) lief unser Programm nahezu wie geplant und so können wir unseren Tourenleitern Volker, Michael und Andi nur dankbar sein, dass sie uns allen diese Erfahrung mit ihren potenziellen Risiken ermöglicht haben – durchaus nicht selbstverständlich. Wir lernten in der Seilschaft, uns selbst und gegenseitig zu vertrauen, obwohl viele von uns sich erst seit kurzem kannten. Die im Vergleich zum Vorjahr gesteigerte Schwierigkeit führte dazu, dass jeder von uns (an unterschiedlichen Stellen) herausgefordert war – gepaart mit den landschaftlichen Eindrücken (die sich auf Bildern nie ganz einfangen lassen), der guten Gesellschaft und den kulinarischen Highlights an gemütlichen Hüttenabenden die perfekte Ablenkung um nun mit frischem Kopf wieder in unserem normalen Leben anzukommen.
Leandra Haas