Die Vorstellung einer Nachtetappe im Harz traf leider nicht Jederfrau Geschmack. Es erforderte doch etwas behutsame häusliche Überzeugungsarbeit, bis ich an einem Septembertag um 13.00 am Startpunkt in Thale abgesetzt wurde. Thale an einem Samstagmittag, der Friedenspark ist mäßig besucht. Um die Talstation der Kabinenbahn Hexentanzplatz mit familiären Attraktionen herrscht reger Betrieb. Gleich dahinter beginnt eine der eindrucksvollsten Schluchten nördlich der Alpen. Der Weg zwischen schäumender Bode und hohen Felsformationen hat nur einen entscheidenden Nachteil. Er ist zu kurz. Bereits nach 8 Kilometern ist Treseburg erreicht. Dort weitet sich das Tal und windet sich zwischen sanfteren Hängen dahin. An ruhigeren Stellen stehen Angler mit Wathosen im Wasser und konzentrieren sich auf ihre Ruten - ein schöner Anblick. Das Bild ändert sich. Der Weg führt über die Wendefurther Staumauer in den Wald. Gegenüber befinden sich die Rohre des Pumpspeicherwerks. Von der Harzdrenalin Megazipline dringt hin und wieder ein Juchzen herüber. Eine 70+ Wandergruppe rastet hier und fragt mich nach meinem Ziel. "Osterode!". "Wie weit ist das?" "Noch ca. 80 Kilometer." Hm?
Sie geben mir noch den brandheißen Hinweis, dass es nachts in der Brockengegend dunkel sein kann, und ich erteile darob dankbar der Gruppe meinen Segen. Der Wald wird uriger. Der Ortseingang von Neuwerk hat das Flair einer heruntergekommenen Geisterbahn. Über eine Straße ist Rübeland schnell erreicht. Es geht steil bergauf zum Hohen Kleef, ein Pavillon mit Sicht auf den Brocken samt Hohnekamm. Ein Wanderer mit schwerem Rucksack hat das gleiche Ziel wie ich, aber mit noch zwei Übernachtungen. Erleichterung, es kann alleine weitergehen durch das Rübeländer Devonkalkgebiet und über den Uferweg der Königshütter Talsperre. Der Himmel klart auf. Das Taggestirn verabschiedet sich mit opalisierenden Farben in den Westhorizont. Am Königshütter Wasserfall wird gepicknickt und gezeltet. Dann empfängt mich endlich die Dämmerung mit Einsamkeit. Drei Annen Hohne wird bei Dunkelheit erreicht. Merkwürdig, keine Menschenseele, kein fahrendes Auto oder Motorrad ist zu sehen oder hören. Ab Hohnehof geht es zügig bergauf. Ein unförmiger, abnehmender Mond gießt spärliches Licht herab. Neben ihm glosen unscheinbare Sternchen am Firmament. Trudenstein - Erdbeerkopf - Ahrensklint - Brockenstraße. Hier ist die Bevölkerungsdichte wieder etwas höher. Genau 4 Personen sind mit mir auf der Brockenkuppe. Es bleiben die einzigen Begegnungen zwischen Königshütte und Oberem Nassewieser Teich bei Buntenbock. Macht nichts. Zügig führt der Goetheweg bergab über Eckersprung und Abbegraben nach Torfhaus. Ein schöner kurzweiliger Weg. Goethe gilt fürwahr als Genie. Mein Getränkevorrat - 3 Liter - ist mittlerweile verbraucht. Kein Problem. Die Grabenwiege des Dammgrabens an der Blochschleife bietet reichlich sauberes Wasser. Der Weg entlang des Grabens ist recht frisch. Das Wasser kühlt merklich. Bald ist der Förster-Ludwig-Platz erreicht und die Kleine Oker gequert. Es zieht sich hin. Alldieweil der Graben stark sich schlängelt, fühl' ich mich doch leicht gegängelt. Letztendlich wird schließlich doch die Große Oker, die Eisenquelle und der Große Kolk passiert. Der Sperberhaier Damm führt söhlig zum Picknickplatz am Mundloch des Rotenberger Wasserlaufs. Einem leichten Pfeifen rechts folgt hörbares Ausatmen. Ich bin hier nicht alleine. Leichte Schritte entfernen sich - wahrscheinlich eine Hirschkuh.
Die Nautische Dämmerung ruft den Horizont hervor. Das T-Shirt lässt jetzt unangenehm die Kälte durch. Ein weiterer technischer Halt ist fällig. Mein Rucksack spendiert mir ein langärmeliges Hemdchen. Auf der Harzhochstraße ist fast kein Verkehr, die Querung ist problemlos möglich. Ab dem Mundloch des Schwarzenberger Wasserlaufs offenbart sich gnadenlos das Ausmaß der Waldschäden. Der Huttaler Graben ist durch die Forstarbeiten mächtig ramponiert. An der Huttaler Widerwaage atmet das Mundloch Nebel aus. Im Entensumpf liegt eine gewaltige Baumleiche. Die Äste der toten Fichte gemahnen an ein gigantisches Gerippe. Auch über dem Wasser des Oberen Nässewieser Teiches wabern kleine Nebelschwaden. Der morgendliche tropfnasse Harz deucht mir morbide. Ein Ort von Tod und Verwesung. Vom Campingplatz "Prahljust" kommt mir eine Reihe Schüler entgegen. Meiner gewahr drücken sich alle auf eine Seite. Sehe ich wirklich so schlimm aus? Ein Gruß beseitigt hoffentlich jegliche Missverständnisse. Nach dem Damm des Bärenbrucher Teiches geht es noch kurz bergan. Ich rufe zu Hause an und gebe meine Position durch. "Oh, Du bist schnell! Ich mache mich bald auf den Weg." Mein linker Fuß war schon vor dem Brocken nass geworden. Blasen machen sich bemerkbar. Der rechte Fuß kompensiert erfolgreich. Der Hundsche Weg, eine breite Forstautobahn, zieht sich tranig bergab. Dorotheenblick – Blockkötenkopf - Mangelhalber Tor - viele Kurven und ein Aufschwung zum Eselsplatz. Dann wieder niederer Laubwald. Interessant geht anders. Schließlich der Waldrand, der Blick auf Osterode wird frei. Es geht weiter bergab. An der Brücke vor dem Butterbergtunnel begegnet mir ein Trailläufer. Wie lange wird er wohl benötigen? Auch er hat keine Lust auf ein Gespräch. Vom Parkplatz winkt mir meine Frau schon zu. Es ist 8:35 Uhr. Der ganze Tag liegt noch vor uns. Ohne die Blasen am Fuß würde ich auch jetzt sagen: "Der Hexenstieg hat einen Nachteil, er ist zu kurz".